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Dienstag, 19. Juni 2007

Gewinn mit Langsamkeit

Leute, es wird Sommer!
Kolumne 08.06.2007, Bilanz

__ Wenn wir in der heutigen, nervösen Welt richtig Erfolg haben wollen, sollten wir uns wie in früheren Zeiten jeden Morgen die Zähne putzen, dann in den Spiegel schauen und zu uns selber sagen: Heute gehe ich raus und schaue so wenig wie möglich auf einen Bildschirm. Ich kümmere mich zum Beispiel kein bisschen darum, wie meine Aktien stehen.

Den nötigen Spielraum haben wir. Klar, wenn wir Aktienhändler von Beruf sind, müssen wir das nervöse Auf und Ab der Kurse zwangsweise mitverfolgen. Alle andern aber müssen nicht. Und: Alle andern sollten dies auch nicht tun. Denn es ergibt absolut keinen Sinn, wenn wir jeden Moment auf unseren Bildschirmen kontrollieren wollen, ob die Kurse gerade nach oben oder nach unten schiessen. Leute, die am Bildschirm in jedem Moment die Zuckungen der Aktienkurse verfolgen, sehen mit 49,9 Prozent Wahrscheinlichkeit ein Abwärts und mit 50,1 Prozent Wahrscheinlichkeit ein Aufwärts ­ so haben das Statistiker über die Jahre ermittelt. Das sind Zufälligkeiten, die uns nicht weiter beschäftigen sollten. Schauen wir nicht hin, verpassen wir überhaupt nichts. Uns «normalen» Menschen genügt die Gewissheit, dass die Chance auf einen Gewinn minimal höher ist als das Verlustrisiko ­ sofern wir nur einen genügend langen Atem haben.

Wir sollten uns übrigens auch davor hüten, nur jede Stunde einmal online den Kurs abzufragen. Sonst sähen wir die Kurse mit 51,3 Prozent Wahrscheinlichkeit steigen und mit 48,7 Prozent Wahrscheinlichkeit fallen. Wir wären damit in 48,7 Prozent der Fälle enttäuscht, was objektiv ein beträchtliches Frustrationspotenzial darstellt. Für optimistische Menschen, wie wir es sein wollen, empfiehlt es sich nicht einmal, am nächsten Morgen in der Zeitung nachzublättern, wie sich unsere Aktien gestern entwickelt haben: Dieser Rhythmus wäre immer noch zu hoch, wären wir doch mit 46 Prozent Wahrscheinlichkeit ernüchtert.

Wer die Kunst der Langsamkeit erlernen will, übt sich darin, nur noch einmal pro Monat auf die Aktienkurse zu gucken. Dann geht es uns bereits etwas besser, wir sind allerdings immer noch mit 33 Prozent Wahrscheinlichkeit frustriert, was für die meisten von uns weiterhin zu viel des Erträglichen sein dürfte. Das nächsthöhere Stadium der Gelassenheit erreichen wir, sobald wir uns getrauen, nur noch einmal im Quartal die Kurse abzufragen. Dann sinkt das Risiko, enttäuscht zu werden, auf 23 Prozent. Schauen wir nur noch ein einziges Mal im Jahr hin, sind wir bei 7 Prozent angelangt. Und so weiter. Irgendwann strebt das statistische Risiko sogar gegen null. Wir dürfen uns einfach nicht nervös machen lassen.

Wir müssen deswegen nicht einmal zum Zen-Buddhismus konvertieren. Es genügt, wenn wir uns einem Schweizer Privatbankier anvertrauen, der wie Konrad Hummler von Wegelin & Co. seinen Kunden bisweilen rät: «Augen zu!»

Diese Lebensweisheit beschränkt sich keineswegs auf den Aktienmarkt. Heute regnet es, morgen scheint die Sonne; und falls morgen die Sonne tatsächlich scheint, steigt die Wahrscheinlichkeit ein klein wenig, dass sie übermorgen immer noch scheint. Ein warmer Winter kündet noch keine Klimakatastrophe an; zwei warme Winter hintereinander zum Glück auch nicht. Jede gute Geschäftsfrau weiss, dass sie sich ihre Launen besser nicht vom zufälligen Tagesumsatz versalzen oder versüssen lässt. Auch TV-Moderatoren tun gut daran, wenn sie nicht stur auf die Quote des Vorabends starren. Zu oft hat ein singuläres Ereignis schon zu falschen Schlüssen verleitet, in jeder Branche, in jeder Beziehung. Selbst die prognostizierte Klimakatastrophe würde erst dann eintreten, wenn wir Menschen so weiterfuhrwerkten wie bisher. Aber das tun wir nicht, sonst wäre die Welt schon mehrmals untergegangen. Bis jetzt haben wir noch immer neue Technologien, intelligentere Maschinen, umweltverträglichere Verfahren erfunden. Aus dieser Einsicht schöpfen wir hoffentlich neuen Mut.

Beginnen wir also nochmals von vorn: Wenn wir in der heutigen, nervösen Welt Erfolg haben wollen, nehmen wir uns eines Morgens nach dem Zähneputzen vor: Heute gehe ich raus, setze mich auf eine Wiese, werde still und schaue dem Gras beim Wachsen zu. Und siehe da: Es wächst.

Quelle: markusschneider.ch

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